SPD Schönwalde-Glien

„Vogelschiss“ und Stolz auf Deutschland

Veröffentlicht am 14.06.2018 in Bildung

Eine Diskussion mit aktuellen Bezügen – nicht nur für Schüler wichtig

Es ist immer wieder belebend, mit Schülern zu diskutieren, ein anregendes und anstrengendes Vergnügen zugleich. Nach einem Vortrag über die wirtschaftliche Situation im Nachkriegsdeutschland fragt ein Zehntklässler, warum wir eigentlich nicht unsere Nationalhymne vollständig singen dürfen. Von mehreren Strophen wissen manche nichts, sie singen eben schon seit dem Erlernen in der Grundschule die dritte Strophe. Ein Mädchen weiß Bescheid: „Wer ‚Deutschland, Deutschland, über alles‘ schmettern will, will andere Länder besiegen, sie unter sich haben; das ginge ja nur mit Krieg. Willst du das denn?“, fragt sie direkt den Mitschüler. Nach kurzer Diskussion und meinen Ergänzungen über Flucht, Bombennächten im Luftschutzkeller, Ruinen und Lebensmittelkarten besteht Konsens darüber, dass Krieg keine Alternative zu unserem gegenwärtigen Leben sein kann. „…zumal nun Atombomben entscheiden würden“, ergänzt ein Mitschüler. Dass Frieden wichtig ist und die Grundlage für alles andere, bezweifelt jedenfalls in dieser Gruppe keiner.

Es kommt dann die Frage auf, ob man nicht wenigstens stolz auf Deutschland sein könne. Deutlich wird ein Bedürfnis, die eigene, noch unfertige, vielleicht auch pubertäre Welt zu erhöhen durch Zugehörigkeit, so wie man stolz ist, wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Wenigstens deren Anhänger möchte man sein. Wer weiß, was da alles kompensiert wird. Der eine hat Dortmunds Vereinsfahne am Auto, der andere die von Bayern München am Gartenzaun. „Ich bin für Union“, sagt Kay – und erntet Lachen, aber auch Verständnis, nicht bei allen. Ich erinnere daran, dass Willy Brandt 1972 im Wahlkampf „stolz auf Deutschland“ war, da man nach dem Einbau von Filtern erstmals saubere Luft im Ruhrgebiet hatte. Ich ergänze: Man kann auch stolz darauf sein, dass Deutschland nach dem verlorenen Krieg 12 Millionen Flüchtlinge friedlich integriert hat und bald auch einen Lebensstandard erreichen konnte, der dem der Siegermächte Großbritannien und Sowjetunion überlegen war – und dies aus einer Trümmerwelt heraus. Und ich erinnerte daran, dass die DDR-Bevölkerung in einer friedlichen Revolution eine Diktatur abgeschüttelt hat – ein einmaliges Ereignis in der deutschen Geschichte. Ein Schüler ergänzte, russische Besatzungssoldaten hätten das Leben in der DDR als besser als im eigenen Land eingeschätzt. Es kamen schnell mehrere Hinweise auf großartige Leistungen, auf Taten und Ereignisse, weswegen man stolz sei – auch die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien wurde genannt.

Die überbordende Diskussion über Stolz zeigte schnell Merkmale der Überheblichkeit parallel zu Abwertungen anderer, die nicht anwesend waren und sich nicht wehren konnten. So  brachte ich einen neuen Gedanken in die Runde: Ich war mal stolz, als ich im Regen mein Fahrrad wieder in Gang bringen und damit nach Hause fahren konnte. Kann man eigentlich stolz über eine Leistung sein, die man nicht selbst zu Stande gebracht hat? Die Frage hatte Potenzial, denn nun kamen viele Beispiele aus dem eigenen Erleben, aus der Familie. Es wurde klar, wer das Thema zu betont auf sich, auf seine Familie, auf sein Land fokussiert, provoziert Neid, Abneigung und unter Umständen Missgunst. Mein alternativer Vorschlag: Was haltet ihr von Gottfried Keller, der im „Fähnlein der sieben Aufrechten“ sagt: „Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe.“ Das stand dann lange an der Tafel.

Viele Finger gingen sofort hoch; dazu hatte fast jeder etwas zu sagen. Schließlich konnte man als Ergebnis festhalten: Diese Aussage sei deshalb besser, weil sie nicht das Ab- und Überbewerten anderer Nationen im Auge hätte, sondern die grundsätzliche Gleichberechtigung, wenngleich Keller als verständlich und normal beurteilt, dass man zu seinem Land ein besonderes Verhältnis hätte, ja, dass man es liebe. „Es ist doch die Heimat“, sagte ein Mädchen, was sofort allgemeine Zustimmung fand. Auch bei Jussuf aus dem Iran und Jasmina aus Tschetschenien, die dann unaufgefordert ergänzen, dass die Demokratie aber ebenso wichtig sei.

Dieser Aspekt, erweitert um den Wert der universellen Menschenrechte, führte zunächst zum Durcheinander, und ich glaubte, der Veranstaltung nicht mehr ganz gewachsen zu sein. Es wurde auch laut! Wer schreit, hat Unrecht – langsam setzte sich die Erkenntnis durch.  (Mein stiller Gedanke: Ob das bei so manchem Stammtisch auch so funktioniert?) Aber dann machte ich einen „Fehler“. Ich fragte ein Mädchen aus einer kurdischen Familie, ob sie auch stolz auf ihr Land sei, was sie heftig bejahte, wodurch sofort ein Sturm der Entrüstung bei einigen Schülern entstand, von denen, die gerade – vielleicht mit Mühe – dem Keller-Zitat zugestimmt hatten. Zwei Schüler, deren Eltern aus Syrien geflüchtet waren, waren unabhängig voneinander der Auffassung, dass Frieden und Demokratie wichtiger seien als Heimat. Und wieder brach bei einigen Unwillen auf.

Nun versuchte ich es mit einem kurzen historischen Hinweis, dass es wohl in jedem Land auch historische Abschnitte gegeben hätte, die kriegerisch, inhuman und verachtenswert gewesen seien. Wichtig sei, dass man darüber historisch korrekt berichte und eine Haltung einnähme, die geprägt sei, sich bei den Opfern zu entschuldigen, die Wunden nach Möglichkeit  zu heilen und eine Wiederholung nach Kräften auszuschließen, vergleichbar der Haltung Deutschlands nach den Verbrechen der Nazizeit oder den Bemühungen Südafrikas, die Fehler der Apartheit aufzuarbeiten. Man dürfe diese Zeit der Inhumanität nicht leugnen oder verharmlosen, wie es beispielsweise ein Bundestagsabgeordneter kürzlich mit der Bemerkung tat, diese 12 Jahre Hitler und die Nazis seien „ein Vogelschiss“ gewesen im Vergleich zur 1000jährigen deutschen Geschichte.  

Kaum war das Wort gefallen, bekam die Diskussion erneut kaum steuerbare Fahrt. Mehrere Schülermeldungen zeigten, dass zu diesem Thema nicht nur Nachrichtenwissen existiert, sondern auch Familiendiskussionen  vorausgegangen waren. Ein Schüler meinte übrigens, er würde sich nicht trauen, das Wort Vogelschiss in einer Klassenarbeit zu verwenden. Deutlich wurde: Die Schüler blieben interessiert, es berührte sie, es waren aktuelle Themen, die sie aus den Medien kannten.

Obwohl ich nicht sagen kann, welche Lernziele erreicht wurden, welcher Konsens auch nach dieser Stunde galt, glaube ich doch, dass diese Schüler, die künftigen Bürger unserer Republik, die kommenden Wähler in den Gemeinden, gelernt haben, dass Argumente zählen nicht Vorurteile, dass ein respektvoller Dialog wichtig ist, dass interessiertes Anerkennen des Anderen, auch des Fremden, die Voraussetzung dafür ist, auch von anderen anerkannt zu werden, dass dazu Toleranz gehört, also das Ertragen des Andersartigen generell. Ein mühsamer Weg, eine schwierige Aufgabe, die wohl nie abgeschlossen ist…

Wilfried Seiring, im Juni 2018

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